Positionspapier
Für ein Recht auf lebenswerten und bezahlbaren Wohnraum
Dieses Positionspapier wurde verfasst und veröffentlicht im Kontext einer Aktion, die auf das Problem der Gentrifizierung in der Norderstraße aufmerksam machte.
Mietpreise steigen massiv an
Wer schon länger in Flensburg wohnt, kann den Mieten beim Steigen zuschauen. Die Angebotsmieten sind in Flensburg zwischen 2010 und 2020 durchschnittlich um 46 Prozent gestiegen, die günstigsten Angebotsmieten sogar um 71 Prozent1.
Die Freude der Immobilienbesitzer*innen wird zum Leid vieler Flensburger*innen. Denn die Einkommen steigen mit durchschnittlich 12 Prozent deutlich langsamer als die Mieten2. Anders ausgedrückt: Mieten in Flensburg steigen fast vier Mal so schnell wie die Einkommen, bei den niedrigsten Mieten sogar sechsmal so schnell. Obwohl steigende Mieten alle Mietenden betreffen, sind die Auswirkungen für ohnehin benachteiligte Gruppen wie Menschen mit Migrationshintergrund, geringem Einkommen oder Alleinerziehende deutlich stärker zu spüren.
Besonders dort, wo die Straßen zu blühen beginnen, drohen Mieten am schnellsten zu steigen. Cafés, Kultureinrichtungen oder Verkehrsberuhigungen heben zwar die Lebensqualität, aber häufig auch die Preise. Dringend benötigter Wohnraum wird kurzerhand zu Ferienwohnungen umgewandelt. Handwerker*innen, Künstler*innen und nicht-kommerzielle Nischen werden an diesen Orten von den lukrativeren Cafés verdrängt. Ohne sozialpolitische Rahmung profitieren vor allem Immobilienbesitzer*innen, Investor*innen und Wohlhabende. Wer sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten kann oder will, muss wegziehen. Doch die Norderstraße ist nur ein Kristallisationspunkt wohnungspolitischer Probleme, die sich vielerorts in der Stadt zeigen. Wohnraum darf keine Ware sein, bei der Profite im Vordergrund stehen.
Jeder Mensch braucht eine Wohnung, daher ist Wohnraum ein Menschenrecht. Wir setzen uns dafür ein, dass sich jede*r eine lebenswerte Stadt leisten kann.
Recht auf Stadt – Flensburg
Wir sind die jüngst gegründete Initiative Recht auf Stadt – Flensburg. Wir wollen ein Flensburg, das für alle zukunftsfähig und lebenswert ist. Wir fordern daher ein Recht auf bezahlbaren Wohnraum, auf Zugang zu Grünflächen und Naturräumen, auf sichere, gesunde und umweltverträgliche Mobilität, auf Zentralität, auf Zugang zu den attraktiven Plätzen der Stadt, auf Differenz und auf Nichtausschluss.
Was die Stadt tun kann
Auch in Flensburg wurden unter anderem mit der Festlegung einer Quote von 30 % gefördertem Wohnraum in allen Neubauten erste Schritte in die richtige Richtung unternommen. Doch für eine wirkliche Wende auf dem Wohnungsmarkt braucht es deutlich mehr und andere Städte zeigen, dass Kommunen nicht machtlos sind. Dafür müssen die Stadtplanung, die Oberbürgermeisterin und die Politik handeln. Passend zu den städtischen „Leitlinien für die Steuerung des Wohnungsangebots in Flensburg“ haben wir konkrete Vorschläge, um wie es dort heißt, Flensburg in eine „Stadt für alle mit hoher Lebensqualität weiter zu entwickeln“3.
1. Transparentes Wissen
Erstens brauchen wir Informationen über Mietentwicklungen und die Wohnsituationen in Flensburg, um die Probleme gezielter identifizieren zu können. Die letzte Wohnungsmarktanalyse der Stadt Flensburg stammt aus dem Jahr 2008, mit einer Fortschreibung im Jahr 2012. Die beschriebenen Angebotsmieten der letzten 10 Jahre zeigen deutlich, dass Zahlen aus 2012 für eine angemessene Wohnungspolitik ungeeignet sind. Auch die Stadt hat das erkannt und eine Wohnungsmarktanalyse vor anderthalb Jahren bereits versprochen4, passiert ist bisher leider noch nichts. Ähnlich sieht es bei einem qualifizierten Mietspiegel aus, den es in den meisten größeren Städten Schleswig-Holsteins bereits gibt, den die Oberbürgermeisterin zu ihrem Amtsantritt versprochen hat und der immer noch nicht vorliegt5. Wir fordern daher eine aktuelle, umfassende Wohnungsmarktanalyse und einen qualifizierten Mietspiegel, um eine informierte Debatte ermöglichen zu können.
2. Erste Hilfe
Zweitens brauchen wir einen sofortigen Schutz für die Norderstraße und andere Gebiete, die besonders von Aufwertung, Mietpreissteigerungen und Verdrängung geprägt sind. Ein erster Schritt in diese Richtung kann die Einrichtung eines sogenannten Milieuschutzgebietes darstellen. Damit wird bezweckt, dass die Zusammensetzung der Bewohner*innenschaft erhalten bleibt. Dafür gibt es in Milieuschutzsatzungen mehrere Instrumente: einen Genehmigungsvorbehalt für bauliche Vorgänge (Rückbau, Umbau, Nutzungsänderung) und unter Umständen für die Umwandlung in Wohnungseigentum sowie ein kommunales Vorkaufsrecht. In Flensburg gibt es bereits eine Erhaltungssatzung, die allerdings nur die Fassaden, nicht aber die dahinter lebenden Menschen und das städtische Leben schützt. Wir fordern daher ein längst überfälliges, umfangreiches Milieuschutzgebiet. Um die Umwandlung von Wohnraum in Ferienwohnungen besser steuern zu können, fordern wir, dass diese in allen Bebauungsplänen der Stadt als genehmigungspflichtig verankert wird.
3. Strukturelle Maßnahmen
Um den rasant steigenden Mieten umfassend und dauerhaft Einhalt zu gebieten, braucht es jedoch mehr. Daher fordern wir drittens die Verwaltung und die Politik dazu auf, das Problem der Mietpreissteigerung in Flensburg ernst zu nehmen, weitere Maßnahmen zu diskutieren und schnellstmöglich umzusetzen. Dazu zählt für uns die Gründung einer kommunalen Wohnungsgesellschaft – die, die es einmal gab, wurde leider vor rund 15 Jahren verkauft. Mithilfe einer solchen Gesellschaft kann mittelfristig ein kommunaler Wohnungsbestand aufgebaut werden. Ein wichtiger Ansatzpunkt wären die bald leerfallenden Krankenhäuser. Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass diese großen Flächen in die Hände renditeorientierter Investor*innen fallen. Um den vielerorts zunehmend verfallenden Wohnraum zu sichern (z.B. Große Straße, Norderstraße, Harrisleer Straße), müssen wir auch in Flensburg über Enteignungen nachdenken. Wenn Eigentümer*innen ihrer Pflicht zum Erhalt der Gebäude nicht oder nur unzureichend nachkommen, gilt es den Wohnraum und nicht das Kapital zu schützen und im Zweifel zu enteignen.
4. Handlungsdruck auf Landes- und Bundesebene ausüben
Viertens fordern wir, dass sich die Stadt auch auf Landes- und Bundesebene für bezahlbaren Wohnraum einsetzt. Schleswig-Holstein gehört zu den Ländern, die ihren Handlungsspielraum hier am wenigsten Ausschöpfen. Die Stadt kann sich beispielsweise auf Landesebene für die Herabsenkung der maximal erlaubten Mietpreiserhöhung innerhalb von drei Jahren (Kappungsgrenze, aktuell 20%) oder eine Mietpreisbremse einsetzen sowie auf Bundesebene für einen Mietendeckel. Für diese und weitere Schritte fordern wir einen transparenten und offenen Prozess und diskutieren gerne Möglichkeiten sowie die Umsetzung (!) sinnvoller Maßnahmen mit.
5. Neubau ist kein Teil der Lösung
Zuletzt noch ein paar Worte zum Neubau. Einige Menschen scheinen dem Trugschluss verfallen zu sein, steigende Mieten könnten vor allem mit Neubau bekämpft werden. Doch zum Einen liegen Neubaumieten in Flensburg in der Regel deutlich über den Bestandsmieten und zum Anderen wird auch die Hoffnung, dass wohlhabendere Menschen in den Neubau ziehen und damit günstige Mietwohnungen frei werden, in der Praxis zumeist enttäuscht. Denn die alten Wohnungen werden eben nicht zu den alten, sondern zu neuen Preisen, den aktuellen „Marktpreisen“, vermietet. Mieten steigen also vor allem, weil Investor*innen im Wohnungsmarkt Geld investieren, um Profite zu steigern. Gegen Mietpreissteigerungen hilft also privatwirtschaftlicher Neubau kaum, sondern eine enge Rahmensetzung, genossenschaftlicher, selbstverwalteter oder kommunaler Wohnraum.
Auch Wohnraummangel kann kreativer bekämpft werden als mit Neubau auf der grünen Wiese oder auf städtischen Freiflächen. Eine soziale Wohnraum-förderung im Bestand wie in Tübingen oder Umzugsanreize wie in Zürich können günstigen Wohnraum schaffen und den vorhandene Wohnraum bedarfsgerecht verteilen. Neubau hilft vor allem der Bauindustrie und zerstört die wenigen Grün- und Freiflächen, die wir noch haben. Wenn überhaupt noch neue Wohnungen gebaut werden, dann nur auf bereits versiegelten und ineffizient genutzten Flächen, wie Supermarktdächern oder Parkplätzen.
Wie viele Geschichten es noch braucht, um diese Forderungen zur (wahren) Geschichte der Stadt werden zu lassen, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass wir nicht einfach abwarten wollen.
Für ein lebenswertes und bezahlbares Flensburg!
Initiative Recht auf Stadt – Flensburg
Wir wollen gerne mit Interessierten und Betroffenen ins Gespräch kommen und Erfahrungen der Mietpreissteigerungen und Verdrängungen sammeln. Schreibt uns gerne, wenn ihr Erfahrungen mit uns teilen wollt oder mitmachen möchtet. Unser Selbstverständnis findet ihr online unter recht-auf-flensburg.de
Initiative Recht auf Stadt – Flensburg, 21.03.2021
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1 riwis.de/online_test/riwis.php3?cityid=01001000&use=wo
2 destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Realloehne-Nettoverdienste/Tabellen/liste-reallohnindex.html
3 flensburg.de/media/custom/2306_518_1.PDF?1447929458
4 shz.de/lokales/flensburger-tageblatt/hausbesetzung-beendet-id26563027.html
5 shz.de/lokales/flensburger-tageblatt/lange-will-mietspiegel-fuer-flensburg-id17497821.html